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Die Zukunft der Zeitung

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werben & verkaufen Supplement 50. Jahre BDZV, (September 2004)

Abstract

Die Zukunft der Zeitung werben & verkaufen Supplement 50. Jahre BDZV vom 23.09.2004 Seite 004 DIE ZEIT DES JAMMERNS IST VORBEI. DEUTSCHLANDS TAGESZEITUNGSVERLEGER HABEN WIEDER TRITT GEFASST. IM W&V-ROUNDTABLE MIT DIRK IPPEN, LUTZ GLANDT, MICHAEL GRABNER, KONSTANTIN NEVEN DUMONT UND RAINER WAGNER SKIZZIEREN SIE KÜNFTIGE MARSCHROUTEN. Provokante Fragen, differenzierte Antworten. Dennoch: Dass das kriselnde Medium Tageszeitung eine Zukunft hat, steht für die Teilnehmer des w&v-Roundtable außer Diskussion. Gewiss gebe es "Strukturprobleme", das Anzeigengeschäft breche weg, und auch die Leser hätten sich verändert. Und zu den Jungen? Na ja, in dieser Richtung müsse noch einiges getan werden. Alles in allem sei man auf dem richtigen Weg. Etwa durch neue Geschäftsmodelle. Und da kann Klaus Josef Lutz, Vorstandsvorsitzender des Süddeutschen Verlags (SV), mit seiner Romanreihe auf ein ungewöhnlich erfolgreiches Zusatzgeschäft und auf ein Novum im deutschen Zeitungs-Business hinweisen. Sozusagen als "gastgebender Tageszeitungsverleger" - w&v erscheint in der SV-Tochter Europa-Fachpresse-Verlag - hatte Lutz seine Kollegen begrüßt und um lebhafte Diskussion gebeten. Die fand denn auch statt, in aller Offenheit. Denn was die Vertreter von Westdeutscher Allgemeiner Zeitung/ Westfälischer Rundschau/NRZ/Ruhr-Nachrichten/Westfalenpost, Kölner Stadt-Anzeiger/Express, Saarbrücker Zeitung/Südkurier/Main-Post und Münchner Merkur/tz/Hessischer Allgemeiner/Westfälischen Nachrichten führten, war ein sachliches Gespräch, das durchaus Widersprüche barg. Übereinstimmung bestand darin, wie das jahrhundertealte Medium in einer veränderten Landschaft überleben kann: als Orientierungshilfe in einer immer komplizierter werdenden Welt. Und die Hausaufgaben müssen gemacht werden, etwa bei der Abo-Gewinnung. w&v Meine Herren, die Tageszeitung steckt in der Krise - hat das Medium überhaupt eine Zukunft? Glandt Wir sitzen hier nicht zusammen, um die Beerdigung eines Mediums zu begehen, sondern eigentlich ist doch ganz was anderes zu spüren, so eine Art Aufbruchstimmung, weil alle Häuser sich Gedanken machen, wie sich die Märkte weiterentwickeln, wie sie junge Leser mit attraktiven Produkten versorgen können. Wir zum Beispiel sind ins Ausland gegangen und konzentrieren uns zusätzlich auf den Zeitschriftenmarkt. Die Zeitung selbst hat natürlich behebbare Strukturprobleme, das ist ganz klar. Ippen Ich sehe das im Prinzip genauso. Man muss darauf hinweisen, dass die Zeitung durch die strukturellen neuen Entwicklungen tatsächlich das einzige verbliebene Massenmedium ist. Sie erreicht noch immer die Mehrheit der Bevölkerung. Es gibt kein anderes Massenmedium mehr, das dieses kann, nachdem das Fernsehen sich in 30 Spartenprogramme aufgesplittet hat. Und außerdem: Kein einziges Medium - 300 Verlage publizieren 1500 Ausgaben - agiert so kleinräumig und geht so ins Detail und in die kleinste Struktur hinein wie die Tageszeitung. Die Zeitung wird noch eine lange, lange Zukunft haben. Neven DuMont Bundesweit hatten wir in den vergangenen Jahren ein Auflagenproblem. Wir haben aber kein Leserproblem, das heißt, die Reichweite ist nahezu gleich geblieben. Es gibt auch positive Beispiele, wie etwa beim "Express". Wir haben dort in fünf Jahren die Reichweite von 570000 auf 730000 steigern können - bei rückläufiger Auflage. An dieser Stelle: Auflage ist für mich nicht alles. Wichtiger sind Reichweite und auch die Wirtschaftlichkeit. Wagner 50 Jahre waren wir in der Komfortzone, da werden leicht mal die Muskeln zu Fett. Das haben wir in den vergangenen vier bis fünf Jahren deutlich erfahren können. Wenn Sie nach der Zukunft der Zeitung fragen, sage ich: Die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre mit Sicherheit. Aber es gibt noch eine Menge Hausaufgaben zu machen, um operativ fit zu bleiben - im Anzeigenverkauf und bei der Abo-Gewinnung. Grabner Diese Branche ist schon sehr eigenartig. Können Sie sich vorstellen, dass es für w&v als Branchenmedium möglich wäre, die Herren Zeiler, Schawinski und Kofler an den Tisch zu bekommen? Dass die zum Thema "TV in der Krise" redeten? Wenn, dann würden die doch das machen, was Sie auch machen sollten: Die Veranstaltung müsste unter dem Motto stehen "Print gewinnt", und nicht "Zeitung in der Krise". Denn wenn wir wirklich in einen Bereich schauen wollen, wo es kriselt, dann schauen Sie sich doch mal die Differenz von Tariferlösen und den Nettoerlösen im Fernsehen und die Reichweite oder das frei verfügbare Einkommen der Hauptzielgruppen im TV an - das ist nämlich negativ. Und Gleiches würden Sie beim Radio sehen. Von "Zeitung in der Krise" zu sprechen ist Frevel. Hier sitzen rund um den Tisch Verleger, die nicht gern offen über ihre Renditen sprechen. Nur so viel: Wir haben keine Krise, sondern eine sehr, sehr große Konjunkturdelle. Glandt Einen Punkt muss man differenzierter sehen, als Herr Grabner das dargestellt hat: Das Thema "Rendite": Hier sitzen Vertreter von Häusern, die, wenn sich die Chance böte, irgendetwas zu kaufen, sich im Bieterverfahren wieder treffen würden ... Grabner ... das ist ein typisches Zeichen eines Krisenmarkts ... Glandt ... Man hat das Potenzial, noch in andere Titel einzusteigen. Das macht man nur, wenn man darin eine Zukunft sieht. Herr Ippen mit seiner Strategie, die Holtzbrinck-Gruppe oder DuMont - wir haben alle Geschäftsmodelle entwickelt, mit denen wir eigentlich zufrieden sind im Kern, was die wirtschaftliche Situation anbelangt. Trotz der schwierigen Situation und dem von Herrn Wagner richtig beschriebenen "Ende dieser Komfortzeit" wollen die meisten Verlagshäuser weiter wachsen. w&v Kann die Zeitung ihre Aufgabe wirtschaftlich erfüllen, wenn das traditionelle Geschäftsmodell - Stichwort Anzeigen - nicht mehr funktioniert? Ippen Wir haben es mit Rezipienten zu tun, Nutzern von Medien, mit Menschen, die eigentlich immer weniger Zeit einsetzen wollen, die schnell informiert sein wollen, weil sie viele, viele Möglichkeiten haben durch die modernen technischen Dinge, durch den Wohlstand, der heute überhaupt herrscht. Neven DuMont Medienkonsum will auch gelernt werden. Und gerade da fällt es ja auf, wenn man sich die Reichweiten insgesamt in Deutschland ansieht, dass wir bei jungen Leuten große Probleme haben. Viele Jugendliche lesen zum Glück Zeitung. Bei einigen gilt sie aber nicht als trendy; das ist halt was anderes, als im Internet zu surfen oder mit dem Handy zu hantieren. Diese Zielgruppe einzusammeln wird eine Herausforderung für uns. Bieten wir da heute die richtigen Produkte? w&v Eine äußerst schwierige Zielgruppe ist die Jugend ... Wagner ... die uns unter anderem auch die Frage stellen lässt, ob wir die Zeitung als Produkt ausdifferenzieren müssen - also einen Prozess einleiten, den es vor zehn, zwanzig Jahren schon im Zeitschriftensegment gegeben hat. Wir dürfen nicht bei der Frage stehen bleiben, ob das überhaupt mit der Zeitung geht, sondern wir müssen es einfach ausprobieren, intelligentes Trial-and-Error betreiben und dem folgen, was die Leser uns rückmelden. Grabner Darf ich wieder mal dagegenhalten? Eigentlich leben die Medien in einem sehr komfortablen Gesamtmarkt. Einerseits haben wir sehr viel freie Zeit und damit eine Dominanz des Medienkonsums, andererseits wird gefragt: Was ist das denn für eine "schreckliche Jugend", was bilden die sich überhaupt ein, unsere tollen Zeitungen nicht mehr zu lesen! Nehmen wir die Markenartikelindustrie. Die würde es umgekehrt angehen und fragen: "Welches Produkt müssen wir auf den Markt bringen, damit die Zielgruppe 14 bis 49 zufrieden ist?" Ich glaube, die Zeitungsverlage haben sich eigentlich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel Komfort geleistet. Sie haben gut verdient, aber nicht einmal ein Prozent ihrer Erträge in Forschung und Entwicklung investiert. Das ist in kaum einer anderen Industrie möglich und üblich. Die hätten längst ein Problem. Wenn Sie heute die Herren Mahr, Zeiler, Kofler fragen, wie viele Formate sie pausenlos im Test haben, dann würden Ihnen die Augen übergehen. Neven DuMont Aber es gibt ja auch Studien, wonach Kinder eher Zeitung lesen, wenn ihre Eltern ihnen das vorgelebt haben. Jetzt also alle Jugendthemen aus der klassischen Zeitung zu verbannen würde ich nicht empfehlen. Ippen Jetzt sind wir an einem wichtigen Punkt. Dass wir es nämlich mit einer Branche zu tun haben, in der Kreativität gefragt ist. Das heißt, es geht um Gestaltungsformen - auch mit neuen Produkten und Inhalten. Durch den unglaublichen Erfolg, den das "Modell Regionalzeitung" uns über jahrzehntelang geliefert hatte, waren wir an diesem Punkt vielleicht ein bisschen verwöhnt. Und es stellte sich mitunter auch gar nicht erst die Frage: Haben wir alles richtig gemacht? Denn wir hatten ja immer alles richtig gemacht. Und nun haben wir den Salat: Der Informationsmarkt hat sich völlig neu ausgerichtet, es gibt Internet und E-Mail und SMS. Jetzt müssen wir mit dieser völlig neuen Wettbewerbssituation fertig werden. Gerade auch unsere Journalisten müssen lernen, wieder kreativ zu sein. Wenn Sie sich eine Zeitung nehmen, sagen wir mal, von vor zwanzig, zehn oder fünf Jahren, und eine von heute, dann sehen Sie sofort, welchen weiten Weg wir inhaltlich auch schon gegangen sind. Und dieser Weg muss weitergegangen werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Zeitungen inhaltlich weiter verändern werden. Für uns bedeutet dies, dass wir sie noch interessanter machen müssen, noch mehr eigene Geschichten bringen, sie einfach journalistischer machen müssen - also investieren müssen. Glandt Ich habe während meiner Zeit bei Gruner + Jahr jemanden kennen gelernt, der ähnlich wie Hans Dichandt das Ganze im Bauch hatte. Das war Henri Nannen. Da ist er mit der Miss Germany, die damals noch was galt, im offenen Cabrio durch Deutschland gefahren, von Stadt zu Stadt, und hat irgendwelche Schadstoffwerte gemessen und war sozusagen der erste Grüne, wenn man so will - zwanzig Jahre vor der Grünen-Bewegung. Im "Stern" hat er dann Woche für Woche die Messwerte publiziert und auf Umweltbelastungen hingewiesen. Und er hat damit Auflage gemacht. Solche kreativen Ansätze benötigen wir! Grabner Das ist das Problem. Ich bin schon einmal für so eine Aussage geprügelt worden. Zeitungen machen mit "Genies" ist leicht. Nur, wir haben zu wenige. Wir müssten sie entwickeln. Wir müssen lernen: Wie können wir mit anderen Hilfsmitteln als nur mit Genies das erreichen. Wenn wir alle einen Herrn Markwort oder einen Herrn Fellner oder einen Herrn Nannen zur Verfügung hätten, könnte ich nur sagen: "Vorwärts mit neuen Printprodukten!" Wagner Wir haben aber ein Erfolgsmodell in der Zeitungslandschaft, das anzuschauen sich lohnt und uns die Differenzierung von Zielgruppen seit Jahren vormacht. Und zwar ist das "Bild" mit Äuto-Bild", "Computer-Bild", "Bild der Frau" und "Sport-Bild". Was die an Line-Extension machen, ist nichts anderes, als aus einer starken Marke heraus neue Produkte für Teilgruppen entwickeln. Und wenn Sie sich die Auflage anschauen, die in der Zwischenzeit mit diesen Beibooten gefahren wird, dann sind es jeden Monat ein paar Millionen. Die Zeitung der Zukunft hat etwas mit neuen und zusätzlichen Angebotsformen zu tun, die wir innerhalb und außerhalb des Produkts für bestimmte Zielgruppen anbieten. Hier braucht es ein sauberes Produktmarketing, das in vielen Zeitungshäusern noch fehlt, und einen langen Atem. Ippen Man muss sich wieder bewusst werden, was Zeitungen und Printmedien eigentlich sind. Nämlich in Wahrheit Solidarsysteme. Wir müssen uns solidarisieren mit den Lesern. Warum? Sie haben eben Henri Nannen zitiert. Warum war der "Stern" so erfolgreich? Nicht nur, weil Nannen so ein genialer Journalist war, sondern vor allem, weil er und die ganze "Stern"-Crew erkannt hatten, dass "Stern"-Leser etwas Besonderes sind. Er hat sich solidarisiert. Neven DuMont Ich will noch einmal auf die Werbekunden zurückkommen. Es gibt marktforscherische Daten darüber, dass die Zielgruppen, die die Marken zum Teil erreichen wollen, überhaupt kein Fernsehen gucken. Das muss man viel stärker ausspielen, und mittelfristig werden sich auch bei den Werbeagenturen crossmediale Werbestrategien durchsetzen. Ippen Ich kann Ihnen von einem Beispiel aus Kassel berichten, wo wir eine ganzseitige Anzeige für den neuen Audi A4 brachten. Da hat der Kasseler Autohändler am nächsten Tag 15 Audis verkauft. Und das durch die regionale Tageszeitung. Es ist also doch nicht so, dass bei uns jetzt Matthäi am Letzten ist. Glandt Ich habe mich irrsinnig gefreut, dass jetzt auf einmal Ikea wieder in die Zeitung geht. Das war ja jahrzehntelang tabu. Sie haben 70 Produkte mit neuen Preisen vorgestellt. Das können Sie im Fernsehen gar nicht darstellen. Und jeder kann sehen: Das ist billiger - da fahre ich mal hin. Ich glaube schon, dass es notwendig ist, diese Erfolgsstory stärker zu penetrieren. Ikea hatte ein volles Haus - so wirkt Zeitungswerbung. Protokoll: S. Braunschweig, R. Rehberger/w&v

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