Die EU-Kommission hat 19 Mitgliedstaaten offiziell gerügt, weil sie die heftig umstrittenen EU-Vorgaben zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten noch nicht ins nationale Recht umgesetzt haben. Erst acht von 27 EU-Staaten hätten entsprechende Gesetze beschlossen und nach Brüssel gemeldet, wie die Kommission am heutigen Donnerstag laut dpa mitteilte. Alle säumigen Länder hätten deshalb schon Ende November Mahnbriefe erhalten. Deutschland gehört inzwischen zu den mustergültigen Vorreitern: Hier traten die heiß umkämpften Verpflichtungen zur sechsmonatigen Aufzeichnung von Nutzerspuren im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung an Neujahr trotz heftiger Proteste von vielen Seiten in Kraft. Allerdings haben Gegner – ausgerüstet mit rund 30.000 Vollmachten besorgter Bürger – Verfassungsbeschwerde gegen die Novelle eingelegt.
Die Vorratsdatenspeicherung macht sich schon bemerkbar. Beratungsanfragen in heiklen Dingen, von denen sich einige im Posteingang angesammelt haben, sind deutlich zurückhaltender formuliert.
Ein möglicher Mandant sorgt sich zum Beispiel, er könnte sich Ärger eingehandelt haben. Wir reden über nichts, wofür die neuen Gesetze nach offizieller Lesart geschaffen wurden. Aber natürlich ist er vorsichtig, denn immerhin hinterlässt seine Kontaktaufnahme mit mir jetzt Datenspuren. Wer weiß, vielleicht begründet der Anruf bei einem Verteidiger, zu dem ja noch kein Mandat besteht und möglicherweise auch keines zustande kommt, ja demnächst sogar einen Anfangsverdacht
Die Hamburger Grünen-Fraktion und die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche haben eindringlich vor den Folgen der Vorratsdatenspeicherung gewarnt. GAL-Rechtsexperte Till Steffen sprach laut dpa von einem "Angriff auf das Grundrecht auf vertrauliche Information". Auch ohne konkreten Anlass könnten Daten jetzt gespeichert werden. Das verstoße gegen das Menschenrecht auf Privatsphäre. Grenzen notwendiger Kontrolle, "werden massiv überschritten", meinte Albrecht Ude vom Netzwerk Recherche.
Das Bundesjustizministerium hat einen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz auf Einsicht in ein Gutachten zur Auskunftserteilung über Verbindungsdaten zurückgewiesen. Die laut Medienberichten seit Juli vorliegende 472-seitige Studie über die "Rechtswirklichkeit" der staatlichen Abfrage von Informationen, wer wann mit wem per Telefon oder Internet in Kontakt stand, befinde sich nach wie vor im Stadium eines Entwurfs, begründet das Ressort von Ministerin Brigitte Zypries (SPD) die Ablehnung der Akteneinsicht. Noch immer prüfe das Bundesamt für Justiz gemeinsam mit dem Ministerium die Abnahme des Erfahrungsberichts des Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Die jetzige Fassung solle nicht Bestandteil des entsprechenden Verwaltungsvorgangs werden.
Der schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete Jürgen Koppelin hat als erster Verfassungsbeschwerde gegen das heftig umstrittene Gesetz (PDF-Datei) zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen eingelegt. Der Liberale hält vor allem die damit verknüpften Bestimmungen zur verdachtsunabhängigen Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten für angreifbar. "Eine solche Totalregistrierung aller Bürger ist verfassungswidrig", erklärte der FDP-Politiker. Die sechsmonatige Aufzeichnung der Verbindungs- und Standortdaten sei auch nicht mit der Terrorabwehr zu rechtfertigen. Die Sicherheitsbehörden von Januar 2008 an eine "gigantische Datenmenge" über die Bürger sammeln, was mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar sei.
Die New York Times hat weitere Einzelheiten des umstrittenen Lauschprogramms der US-Regierung und der National Security Agency (NSA) enthüllt. Demnach geht es bei den Spionagebestrebungen ohne richterlichen Beschluss keineswegs nur um die Terrorabwehr, wie zunächst vermutet. Vielmehr gibt es auch bereits seit den 1990er Jahren eine vergleichbare Zusammenarbeit zwischen dem technischen Geheimdienst der USA und nationalen Telekommunikationsanbietern. Damit sind laut dem Bericht ohne richterliche Kontrolle unter anderem die Verbindungsdaten tausender US-Bürger und anderer Nutzer bei Telefongesprächen und E-Mails aus den Vereinigten Staaten nach Lateinamerika erfasst und ausgewertet worden. Erst 2004 habe ein Carrier es aus Angst vor ungebührlichen Eingriffen in die Privatsphäre der Kunden und einem PR-Debakel erstmals abgelehnt, die Kundendaten einfach so herauszurücken.
In einem Forum zum Thema "Ende der Privatsphäre?" diskutierten Vertreter aus Zivilgesellschaft, Justiz und Wirtschaft am gestrigen Freitagabend die erwarteten Folgen der Vorratspeicherung von Telefon- und Internetdaten sowie anderer Überwachungsvorhaben. Organisiert wurde die Veranstaltung von der neu gegründeten German Privacy Foundation (GPF) in Berlin.
Neuer juristischer Sprengstoff für die im Raum stehende Vorratsspeicherung von Telefon- und Internet-Verbindungsdaten: Das Verwaltungsgericht Berlin hat in einem jetzt bekannt gewordenen rechtskräftigen Beschluss angemahnt, dass im Fall des umstrittenen Abhörens von Auslandsverbindungen eine staatliche Entschädigung auch bereits für Investitionen in die erforderliche Aufrüstung der Überwachungsinfrastrukturen fällig ist. Andernfalls würden Geschäftskundenanbieter gemäß den bestehenden Regelungen über Ausgleichszahlungen leer ausgehen. Die Entscheidung ist nach Ansicht des Verbands des Klägerunternehmens, der Initiative Europäischer Netzanbieter (IEN), auch auf die Verpflichtung zur verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung übertragbar. Selbst die von der großen Koalition vorgeschlagenen erweiterten Entschädigungsregelungen sehen dort zum Bedauern der Industrie keine Vergütungen für nötige Investitionskosten vor.
Die Humanistische Union wirft Bundesjustizministerin Brigitte Zypries vor, in der Debatte um das heftig umstrittene Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten viele Punkte beschönigt und das Ausmaß der neuen Befugnisse falsch dargestellt zu haben. Die SPD-Politikerin, die im Vorfeld der Entscheidung Kritikern wenig Sachkunde und Panikmache vorgeworfen hatte, habe selbst im Rahmen der Endabstimmung im Bundestag über den Entwurf noch "eine ganze Reihe von Nebelkerzen" geworfen, moniert der Geschäftsführer der Bürgerrechtsorganisation, Sven Lüders. Damit habe die Ministerin "das Ausmaß der Überwachung des Kommunikationsverhaltens klein reden" wollen.
Der Greifswalder Verfassungsrichter Helmut Wolf hält das vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Vorratsdaten-Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten für verfassungswidrig. Er halte die angekündigten Verfassungsbeschwerden für "sehr aussichtsreich", sagte der Vizepräsident des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern in einem Gespräch mit dpa. "Ich bin davon überzeugt, dass die Verpflichtung, alle Telefon- und Internetverbindungsdaten sechs Monate zu speichern und damit für einen eventuellen staatlichen Zugriff zur Verfügung zu halten, verfassungswidrig ist."
Dem Rechtsausschuss des Bundesrates geht der vom Bundestag vor zwei Wochen beschlossene Gesetzesentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung nicht weit genug. Vor allem bei den Bestimmungen zum Zugriff auf die demnach sechs Monate verdachtsunabhängig aufzubewahrenden Verbindungsdaten, die das Parlament bereits deutlich gegenüber den EU-Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung ausdehnte, sieht das federführende Gremium der Länderkammer noch Korrekturbedarf. So sollen die Länderchefs bei der Plenarsitzung am kommenden Freitag eine Entschließung (PDF-Datei) fassen, wonach auch Rechteinhabern zur zivilrechtlichen Verfolgung etwa von Urheberrechtsverletzungen Zugang zu den Datenbergen zu gewähren ist.